Zum Tod von Christoph Wagner
Pionier und Vater der deutschen Musikphysiologie
Wäre die deutsche Musikphysiologie ohne Christoph Wagner denkbar? Wohl kaum, denn vor seinem musikphysiologischen Wirken findet man in Deutschland, ja in Europa nur rudimentäre Ansätze einer Beschäftigung mit den physiologischen und medizinischen Berührungspunkten in der Ausbildung und Berufstätigkeit von MusikerInnen.
Die Nachricht vom Tode Prof. Dr. med. Christoph Wagners am 30. August 2013 hat seine Familie, seine Freunde, aber auch alle in der Musikphysiologie und Musikermedizin tätigen KollegInnen außerordentlich tief getroffen – nicht nur, weil hier ein hochkompetenter und faszinierender Wissenschaftler, Arzt und Musiker von uns gegangen ist, sondern auch ein außergewöhnlich sympathischer, bescheidener und beglückender Mensch, dessen Persönlichkeit an all seinen Wirkungsstätten nachhaltigen Eindruck hinterließ. So trauert auch die Deutsche Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin um ihren
Gründer, Mentor und Förderer, der für viele geradezu der Inbegriff dieser Gesellschaft war und mit ihr unverrückbar verbunden bleiben wird.
Gerade die Bescheidenheit, das dezente Auftreten Christoph Wagners legt es nahe, seinen Lebensweg in knappen Zügen auch für diejenigen zu skizzieren, die nur Teile davon kennen. Christoph Wagner besaß nicht die fragwürdige Gabe einer ausgeprägten Selbstdarstellung, so dass vieles, was von ihm erdacht, eingeleitet und durchgeführt wurde, manch Interessiertem vielleicht verborgen blieb.
Christoph Wagner wurde am 20. Mai 1931 in Marburg geboren. Er wuchs in Weilburg/Lahn in einem lebendigen und phantasievollen Elternhaus auf, in dem ein Sonntag ohne Musizieren und vierstimmiges Singen kaum denkbar war. Im Alter von sechs Jahren erhielt er erstmals Klavierunterricht. Da seine Lehrer immer wieder zum Militär eingezogen wurden, hatte er während des Krieges allerdings nur sporadisch Klavierunterricht. Vielleicht liegt hier der Ursprung für seine ungewöhnliche Fähigkeit zu improvisieren? Zeitlebens dankbar war er Fritz Pohlner, einem böhmischen Pianisten, der ihm nach dem Krieg vermittelte, „was große Musik ist“. Voller Faszination spielte er Bach, Beethoven, Schumann und Chopin-Etüden, mit Geschwistern und Freunden Lieder und Kammermusik. Schon damals galt er als besonders guter, einfühlsamer Begleiter.
Das Medizinstudium in Marburg, München und Mainz schloss Christoph Wagner mit der Promotion und einer kurzen Assistenzzeit ab. Seine Liebe aber galt nach wie vor der Musik und so begann er im Alter von 27 Jahren in Detmold ein Musikstudium mit Hauptfach Dirigieren. Er genoss die musikalische Arbeit und die Gemeinschaft mit den gleichgesinnten Freunden. Doch zugleich drängten sich Fragen auf: spieltechnische Anweisungen verschiedener LehrerInnen erwiesen sich als widersprüchlich, manchmal auch als anatomisch-physiologisch unsinnig. Und immer wieder baten Kommilitonen den fertigen MedizinerInnen heimlich um Rat, wenn die Hand oder der Rücken schmerzte. So wurde Christoph Wagner bis zum Ende seines Studiums klar, was der musikalischen und instrumentalen Ausbildung fehlte: eine wissenschaftliche Grundlage, so wie er sie aus der Medizin kannte und wie sie im Sport selbstverständlich war.
Auf der Suche nach einer hilfreichen wissenschaftlichen Disziplin stieß er schließlich am Max-Planck- Institut für Arbeitsphysiologie in Dortmund auf offene Ohren. Schon damals war Christoph Wagners Konzept einer experimentellen Instrumentalpädagogik umfassend und beinhaltete weit mehr als seine Untersuchungen zur Individualität der Musikerhand, für die er heute vor allem bekannt ist.
Zehn Jahre lang lebte Christoph Wagner von Forschungsantrag zu Forschungsantrag. Er entwikkelte Messgeräte zur biomechanischen Handdiagnostik, präparierte einen Bechstein-Flügel mit einer Messgenauigkeit (1 ms), die heutige Computerflügel gerade erst wieder erreichen u. a. m. Dies alles mit dem Ziel, dem Geheimnis der KönnerInnen und dem Geheimnis des Könnens auf die Spur zu kommen, und um MusikerInnen helfen zu können, die an Grenzen stoßen. Selbst Herbert von Karajan reiste nach Dortmund, um seine Vorstellungen von Tempopräzision überprüfen und dokumentieren zu lassen. Am Max-Planck-Institut lernte Christoph Wagner auch seine spätere Frau Sigrid kennen. Mit dem Messinstrumentarium für die Musikerhand reisten sie gemeinsam durch die ganze Republik. Die bis heute weltweit einzigartigen Daten stammen u. a. von Streichern der Berliner PhilharmonikerInnen, von HochschulprofessorInnen und ARD-PreisträgerInnen.
Auf der Basis dieser wissenschaftlichen Tätigkeit entstand die Grundlage für eine individuelle Musikerberatung. Die Intention war u.a., dass jeder Einzelne einen Weg zur Musik finden kann, der im Einklang mit seinen körperlichen Bedingungen und mit der Individualität seiner Hände steht. Es ging Christoph Wagner in seiner gesamten Forschung darum, eine Wissenschaft für MusikerInnen und nicht nur über MusikerInnen zu etablieren.
1974, mit dem Ruf an die Hochschule für Musik und Theater in Hannover, gründete Christoph Wagner das erste musikphysiologische Institut in Deutschland und in Europa − zunächst als „Institut für experimentelle Musikpädagogik“, ab 1979 unter dem Namen „Institut für Musikphysiologie“. Er konzipierte Vorlesungen, verankerte die physiologischen Grundlagen des Instrumentalspiels als Pflichtfach im Curriculum des instrumentalpädagogischen Studiums, forschte, vernetzte sich mit der Instrumentalpädagogik und bot eine Musikersprechstunde an. Weitere 15 Jahre lang blieb er deutschlandweit die einzige Anlaufstelle für MusikerInnen mit Schmerzen oder anderen Beschwerden. Die unzähligen Briefe, die Christoph Wagner in dieser Zeit und manchmal auch Jahre später von seinen MusikerpatientInnen bekommen hat, legen eindrucksvoll Zeugnis ab, wie einfühlsam und wie bedeutsam sein ärztlicher und manchmal auch musikalischer Rat gewesen ist. Christoph Wagner war sehr daran gelegen, dass er an einer Musikhochschule, in direktem Kontakt zu den MusikerInnen und im intensiven Austausch mit ProfessorInnen und Studierenden wirken konnte, und nicht primär an einer klinischen Einrichtung. Das ursprüngliche Angebot, ein solches Institut an der Medizinischen Hochschule Hannover einzurichten, hat er schnell verworfen. Interessanterweise galt es damals noch Widerstände von Seiten der Musikhochschule zu überwinden, die sich ein Institut mit derartig wissenschaftlich ausgerichtetem Konzept zunächst nur schwerlich vorstellen konnte. Doch Christoph Wagner wusste die Skeptiker zu überzeugen, indem er Ihnen mit viel Geduld und seiner doppelten Kompetenz in Musik und Medizin immer wieder den direkten Praxisbezug sowie den pädagogischen Nutzen musikphysiologischer Forschung und Lehre demonstrierte.
Christoph Wagner stand dann auch mit Überzeugung Pate für die Etablierung einer Musikersprechstunde am Klinikum der Johannes-Gutenberg- Universität Mainz, welche ab 1989 von Jochen Blum angeboten wurde. Er war sehr daran interessiert, dass sich sowohl die Musikphysiologie als auch die Musikermedizin nicht nur in Hannover weiter entwikkeln sollte und konnte. Er engagierte sich stark für die weitere Verbreitung des Fachs auch an anderen Standorten, wie dann erstmals unter seiner Förderung 1992 an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt und in den folgenden Jahren in Berlin, Detmold, Dresden, Freiburg, Köln und anderen Hochschulen und Kliniken.
Machen wir uns bewusst: ohne die Vorarbeit Christoph Wagners, ohne seine vielen Jahre an Überzeugungsarbeit, solider Forschung, exzellenter Lehre und Vortragstätigkeit hätte die heutige musikphysiologisch- musikermedizinische Landschaft in Deutschland wohl nicht in dieser Form entstehen können.
Bei den ersten Begegnungen von Christoph Wagner und Jochen Blum 1985 während einer wissenschaftlichen Tagung in Lüdenscheid, wie auch danach im Hannoveraner Institut, entstand auch die Idee der Gründung einer Fachgesellschaft für den Bereich Musikphysiologie und Musikermedizin. Der Anspruch an Qualität und Nachhaltigkeit einer solchen Fachgesellschaft bei gleichzeitiger Aversion gegenüber reinen Marketing-Instrumenten und kommerzieller Orientierung führte dazu, dass eine solche Gründung letztlich auch aus Sicht von Christoph Wagner einer deutlichen Reifung und ausgiebigen Vorarbeit bedurfte.
Hinzu kam, dass es 1989 nach der Öffnung der damaligen DDR und der Wiedervereinigung Deutschlands etwas Zeit brauchte, um die in der DDR vorhandenen Erfahrungen im Bereich der Musikermedizin – insbesondere durch das Ost-Berliner Bühnenambulatorium, aber auch die Tätigkeit von Götz Methfessel an der Musikhochschule Dresden – einzubeziehen.
1993 beendete Christoph Wagner seine Hochschultätigkeit und übergab das „Institut für Musikphysiologie“ an Prof. Dr. med. Eckart Altenmüller. Wenige Monate zuvor, zum Jahresbeginn 1993, war noch Maria Schuppert als wissenschaftliche Mitarbeiterin ins Institut eingetreten. Eher zufällig hatte sie damals von der Arbeit Christoph Wagners an der Hochschule erfahren, in ihm ihr eigenes Interesse an den Schnittstellen von Musik und Medizin unmittelbar wiedererkannt und sich aufgrund seiner Begeisterungsfähigkeit, Überzeugtheit und fundierten Argumentation binnen kürzester Zeit zu einer Mitarbeit im Institut entschlossen. Die wenigen Monate der direkten Zusammenarbeit in der Hochschule sind unvergessen − in fachlicher und menschlicher Hinsicht gleichermaßen. Schon damals gab es Momente, in welchen ihm seine Grunderkrankung zu schaffen machte. Geklagt hat er nie. Aber gefragt nach dem Wohlbefinden Anderer hat er immer. Sein selbstloses Zurücknehmen, seine Bescheidenheit, Mitmenschlichkeit und Wärme waren bemerkenswert und lassen uns mit Achtung und Dankbarkeit auf ihn zurückblicken.
Nach der Emeritierung zog sich Christoph Wagner keineswegs aus seinem Fach zurück. Im Gegenteil: Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin 1994 in München war die logische Konsequenz aus seiner Vorarbeit und die DGfMM-Präsidentschaft Christoph Wagners über viele Jahre ein Garant für maßvolles, auf Dauer ausgerichtetes Wachstum der Gesellschaft. Stetig achtete er darauf, dass der Fokus der DGfMM auf eine wissenschaftlich basierte und zugleich praxisorientierte Musikphysiologie gerichtet blieb, die ausschließlich und unmittelbar – ohne kommerzielle Interessen oder Selbstdarstellung – dem Musizieren und den MusikerInnen dienen sollte. Es war eine Freude, ihn dabei begleiten und unterstützen zu dürfen! Christoph Wagner ist uns noch heute Vorbild in seiner klaren Sicht auf die Aufgaben der Musikphysiologie und Musikermedizin und die Ausrichtung der Fachgesellschaft. 2001 wurde er zum Ehrenmitglied der DGfMM ernannt. Sie ist geprägt durch ihn und wird immer untrennbar mit seinem Namen und seinem musikphysiologischen Wirken verbunden sein.
Die wissenschaftliche Tätigkeit Christoph Wagners und seine Lehrtätigkeit spiegeln sich in einer Vielzahl an Publikationen wieder, sowohl in Fachzeitschriften als auch in Fachbüchern. Seine Vorträge bei Tagungen und Kongressen sind unvergessen und allen ist gemeinsam, dass Christoph Wagner extrem filigran nicht nur an den Inhalten, sondern auch an der jeweiligen textlichen Form – sei es schriftlich oder mündlich – gefeilt hatte. Aus diesen seien die Bücher „Medizinische Probleme bei Instrumentalisten. Ursachen und Prävention“ (Laaber Verlag, 1995) als Dokument des ersten internationalen und interdisziplinären musikphysiologischen Symposiums in Deutschland im Jahre 1992, aber auch sein Standardwerk zur Individualität der Musikerhand „Hand und Instrument. Musikphysiologische Grundlagen. Praktische Konsequenzen“ unter Mitarbeit von Ulrike Wohlwender (Breitkopf & Härtel, 2005) genannt und besonders empfohlen.
Im Jahre 2009 übernahm die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) das Messinstrumentarium sowie die Datengrundlage der biomechanischen Handuntersuchung aus Hannover. Am „Zürcher Zentrum Musikerhand“ (ZZM) des Bereichs Musikphysiologie / Musik- und Präventivmedizin der ZHdK wird die Forschung zur Musikerhand unter Leitung von Prof. Dr. med. Horst Hildebrandt weitergeführt, in der Musikerberatung angewandt und mit der Forschung zum motorischen Lernen des Collegium Helveticum der ETH und Universität Zürich verknüpft. Christoph Wagner war sehr glücklich darüber, dass sein spezieller praxisorientierter Ansatz in Zürich weiterentwickelt wird.
Dass, ebenfalls im Jahr 2009, an „seiner“ Hochschule für Musik Detmold die Musikphysiologie und Musikermedizin eine starke Gewichtung erfahren durfte, freute ihn sehr, und umgekehrt freut es uns, dass er diese positive Entwicklung noch erleben durfte. Denn der intensive Gedankenaustausch im Detmolder Studium mit seiner Klavierdozentin Renate Kretschmar-Fischer über die „Mittel und Wege zur Musik“ waren, wie er einmal sagte, der Ursprung seiner späteren umfangreichen und wegweisenden musikphysiologischen Forschungsarbeiten gewesen.
Vieles über Christoph Wagners Wirken als Musikphysiologe und Musikermediziner und über seine wissenschaftliche Arbeit ist auch auf der Website www.christoph-wagner-musikphysiologie.de zu erfahren.
Wir verlieren in Christoph Wagner einen liebevollen Weggefährten, einen unersetzlichen Freund und eine scheinbar unerschöpfliche Inspirationsquelle.
Die Musikwelt verliert nicht viel weniger als den Vater der Musikphysiologie und der Musikermedizin.
Prof. Dr. med. Maria Schuppert
Hochschule für Musik Detmold
Prof. Ulrike Wohlwender
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart
Prof. Dr. med. Jochen Blum
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main